Disziplinarrecht: Alkoholabhängigkeit und Disziplinarrecht
Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg, 1 NDH L 6 / 03 vom 28.01.05
Der Rückfall in die nasse Phase der Alkoholsucht ist disziplinarisch relevant, wenn die Entziehungskur erfolgreich war, d. h. den Beamten in die Lage versetzt hat, der Gefahr eines Rückfalls mit Erfolg zu begegnen, und die erneute Alkoholabhängigkeit negative Auswirkungen auf den dienstlichen Betrieb hat.
Der Rückfall in die nasse Phase der Alkoholsucht ist disziplinarisch relevant, wenn die Entziehungskur erfolgreich war, d. h. den Beamten in die Lage versetzt hat, der Gefahr eines Rückfalls mit Erfolg zu begegnen, und die erneute Alkoholabhängigkeit negative Auswirkungen auf den dienstlichen Betrieb hat.
Der inzwischen pensionierte Beamte trat 1982 in die Polizei des Landes Niedersachsen ein.
1991 wurde er zum Beamten auf Lebenszeit ernannt.
Im Mai 1998 versetzte man ihn in den Ruhestand, weil er gesundheitlich weder für den Polizeivollzugsdienst noch den allgemeinen Verwaltungsdienst geeignet sei: es gebe bei ihm keine Hoffnung auf Einsicht in die Notwendigkeit einer Therapie seiner langjährigen Alkoholerkrankungen.
In diesem Disziplinarverfahren ging es um die disziplinarrechtlichen Folgen seiner "Rückfälle in den Alkoholismus", die noch während der aktiven Dienstzeit geschehen waren.
Die Disziplinarkammer beim Verwaltungsgericht hatte in erster Instanz auf Kürzung des Ruhegehalts um ein Fünftel auf die Dauer von drei Jahren erkannt.
Dabei ist das Gericht davon ausgegangen, der Ruhestandsbeamte habe sich in mehreren Punkten eines Dienstvergehens schuldig gemacht. Von dem Vorwurf des schuldhaften Rückfalls in den Alkoholmissbrauch hat das erstinstanzliche Gericht den Ruhestandsbeamten aber freigestellt.
Dazu hatte die erste Instanz ausgeführt:
Der disziplinare Vorwurf des schuldhaften Rückfalls in die Alkoholabhängigkeit setze u. a. voraus, dass die Entziehungstherapie erfolgreich war, d. h. den Beamten in der Lage versetzt habe, der Gefahr eines Rückfalls mit Erfolg zu begegnen. Aufgrund der ärztlichen Gutachten und Berichte sowie der Schilderung des Beamten sei die Disziplinarkammer aber nicht davon überzeugt, dass auch nur eine einzige der zahlreichen Alkoholentziehungskuren erfolgreich gewesen sei. In den ärztlichen Stellungnahmen wechselten positive Befunde mit deutlichen Hinweisen auf eine ungebremste Fortsetzung des Alkoholismus und das Fehlen jeglicher Einsicht in die Notwendigkeit therapeutischer Maßnahmen. Dem Beamten sei die Einlassung, er sei erst seit 2001 (nach seiner Pensionierung) trocken, nicht zu widerlegen. Folglich könne ihm keine schuldhafte Verletzung der Dienstpflicht zur Gesunderhaltung zur Last gelegt werden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Dienstherrn, über die das OVG entscheidet.
Der Dienstherr meint, eine 1987 durchgeführte Entziehungstherapie sei erfolgreich gewesen. Ein Arzt für Neurologie und Psychiatrie habe in Berichten von 1987, 1988 und 1990 ausgeführt, dass kein weiterer Alkoholmissbrauch vorliege. Nachdem der Beamte am 01.04.88 an eine andere Dienststelle versetzt worden sei, seien auch keine Auffälligkeiten festgestellt worden. Außerdem sei bei einer polizeiärztlichen Untersuchung im Mai 1990 festgestellt worden, dass der Beamte bei reduziertem Alkoholkonsum körperlich, geistig und seelisch voll belastungsfähig und uneingeschränkt dienstfähig sei. ...
Somit sei er nach 1987 einige Jahre lang "trocken" gewesen. Das bestätige, dass die Alkoholentziehungstherapie erfolgreich gewesen sei. Entsprechendes gelte auch für die im Frühjahr 1994 durchgeführte Entziehungstherapie. Nach dieser Therapie und der anschließenden Belehrung über seine Dienstpflichten und die möglichen disziplinarischen Folgen eines erneuten Abgleitens in die nasse Phase der Alkoholsucht sei monatelang kein alkoholbedingtes Fehlverhalten bekannt geworden. Ein Rückfall sei erst im Februar 1995 erfolgt. Dieser sei aber auf die Neigungen des Ruhestandsbeamten und keineswegs auf seelische Störungen zurückzuführen. Daher sei der Ruhestandsbeamte auch für diesen Rückfall in die Alkoholabhängigkeit verantwortlich.
Der Verteidiger des Ruhestandsbeamten beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die ärztlichen Stellungnahmen seien nicht geeignet, die Einlassung zu widerlegen, dass er schon seit seiner Laufbahnprüfung Alkoholiker sei und mit Ausnahme kurzer Abstinenzphasen bis zu der letzten Entziehungstherapie exzessiv Alkohol konsumiert habe. Er sei ein Quartalstrinker, bei dem es immer wieder Abstinenzphasen gebe. Nach den Alkoholentziehungstherapien sei er stets mehrere Wochen oder Monate lang trocken gewesen. Seiner Erinnerung nach sei er auch nach der Langzeittherapie etwa drei bis vier Monate lang ohne Alkohol ausgekommen. Inzwischen sei er "trocken". Von April 2003 bis Januar 2004 habe er sich einer ambulanten Langzeittherapie unterzogen. ...
Das Berufungsgericht erkennt auf Aberkennung des Ruhegehalts.
Zur Problematik des Alkoholrückfalls führt das Berufungsgericht aus:
Der Beamte hat sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen. Daraus folgt die Verpflichtung, dem Dienstherrn seine volle Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen und diese zu erhalten. Zu den diesen Pflichten gehört es, nach einer Alkoholentziehungstherapie den Griff zum sogenannten "ersten Glas Alkohol" zu unterlassen, weil jeglicher Genuss von Alkohol nach einer Entziehungstherapie das Verlangen nach weiterem Alkohol wieder aufleben lässt und erfahrungsgemäß in die nasse Phase der Alkoholabhängigkeit zurückführen kann. Gleichwohl begründet nicht schon der Griff zum Alkohol den Vorwurf der Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten. Disziplinarrechtlich relevant ist der Rückfall in die nasse Phase der Alkoholsucht vielmehr erst dann, wenn die Entziehungskur erfolgreich war, d. h. den Beamten in der Lage versetzt hat, der Gefahr eines Rückfalls in die Alkoholabhängigkeit mit Erfolg zu begegnen, und wenn die erneute Alkoholabhängigkeit negative Auswirkung auf den dienstlichen Betrieb hat. Diese Voraussetzungen für einen disziplinarrechtlich vorwerfbaren Rückfall in die nasse Phase der Alkoholabhängigkeit sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Der Ruhestandsbeamte ist wegen seiner Alkoholerkrankung 1987 in einer Fachklinik stationär behandelt worden. Diese Langzeittherapie, die nach dem Abschlussbericht der Klinik mit einer günstigen Prognose beendet worden ist, ist erfolgreich verlaufen, weil der Ruhestandsbeamte in der Folge mehrere Jahre lang abstinent gelebt hat. ...
Deshalb ist davon auszugehen, dass der Ruhestandsbeamte auch imstande war, der Gefahr eines Rückfalls in die nasse Phase der Alkoholsucht mit Erfolg zu begegnen.
Der Ruhestandsbeamte hat die Entwicklung wie folgt beschrieben: „Nach dem Krankenhausaufenthalt in Y. (Entlassung 01.06.94) habe ich keinen Alkohol zu mir genommen. ... Im Februar 95 habe ich das erste Mal nach der Therapie wieder Alkohol angerührt. Damals dachte ich, dass ich kontrolliert Alkohol zu mir nehmen könnte. Ich war mir sehr sicher, dass ein Glas Bier nicht schaden könnte. Das war ein Irrtum, ich konnte mein Handeln nicht mehr steuern. Mein Trinkverhalten richtete sich nach meinen Dienstzeiten. Ich erkannte wohl die Gefahr, dass ich, wenn ich nach dem Spätdienst Alkohol getrunken hätte, zum Frühdienst vermutlich nicht hätte erscheinen können. Wenn ich trank, trank ich so lange, bis ich ein bestimmtes Level erreicht hatte. D. h. ich wollte meine privaten Probleme vergessen und einfach abschalten."
Dieser Aussage ist zu entnehmen, dass der Ruhestandsbeamte im Februar 1995 aus freiem Entschluss wieder Alkohol konsumiert hat und in der Lage gewesen wäre, einen Rückfall in die nasse Phase der Alkoholabhängigkeit zu vermeiden. Für letzteres spricht u. a. sein Hinweis darauf, zwischen der Spät- und der Frühschicht wegen der Gefahr, zur Frühschicht nicht erscheinen zu können, keinen Alkohol getrunken zu haben. Entsprechendes gilt auch für die Erklärung, er habe durch das Trinken seine "privaten Probleme vergessen und einfach abschalten" wollen. Außerdem ist der Ruhestandsbeamte im zweiten Halbjahr 1994 im Dienst nicht alkoholbedingt aufgefallen, was zu erwarten gewesen wäre, wenn er damals wieder zum Alkohol gegriffen hätte. Daher ist davon auszugehen, dass auch die im Frühjahr 1994 durchgeführte Alkoholentziehungstherapie erfolgreich gewesen ist und den Ruhestandsbeamten in die Lage versetzt hat, auf Alkohol zu verzichten und abstinent zu leben. Dies wird durch das nervenärztliche Gutachten vom 23.02.98 bestätigt. Danach hat es der Ruhestandsbeamte im Februar 1995 wie auch in den anderen Fällen in vollem Bewusstsein zu den Rückfällen in die Alkoholabhängigkeit kommen lassen. Bei seiner Aufnahme in das Krankenhaus am 27.02.95 habe er erklärt, nach seiner Entlassung aus der letzten Entziehungskur "trocken" gewesen zu sein, bis es zu einem erneuten Rückfall gekommen sei. Dieser Rückfall sei keineswegs auf schwerwiegende seelische Störungen zurückzuführen.
Folglich ist festzustellen, dass der Ruhestandsbeamte zweimal trotz erfolgreicher Alkoholentziehungstherapien in die nasse Phase der Alkoholabhängigkeit zurückgefallen ist und dadurch die ihm obliegenden Dienstpflichten verletzt hat. Diese Dienstpflichtverletzungen sind auch schuldhaft erfolgt. Denn der Ruhestandsbeamte hat jedenfalls mit bedingtem Vorsatz gehandelt, als er nach den Alkoholentziehungstherapien allen Erkenntnissen und Ermahnungen zum Trotz wieder Alkohol zu sich genommen hat.
Der Gutachter hat festgestellt, dass der Ruhestandsbeamte bezüglich der Rückfälle in die nasse Phase der Alkoholsucht weder schuldunfähig (§ 20 StGB) noch vermindert schuldfähig gewesen ist. Der Ruhestandsbeamte hat den Rückfall in die nasse Phase der Alkoholsucht und die damit verbundenen Folgen auch billigend in Kauf genommen. Dabei war er sich insbesondere der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens bewusst. Der Leiter der Schutzpolizeiinspektion hat ihn mit Schreiben vom 18.05.94 darauf hingewiesen, dass ein Beamter sich mit voller Hingabe seinem Beruf widmen und daher dazu beizutragen müsse, sich gesund zu erhalten bzw. eine Krankheit zu überwinden. Ferner ist der Ruhestandsbeamte darüber belehrt worden, dass ein schuldhaft herbeigeführter Rückfall in die Trunksucht pflichtwidrig sei und im Rahmen eines förmlichen Disziplinarverfahrens zur Entfernung aus dem Dienst führen könne. Darüber hinaus hat der Leiter der Schutzpolizeiinspektion mit Schreiben vom 07.06.94 den Rückfall des Ruhestandsbeamten in die nasse Phase der Alkoholabhängigkeit missbilligt und den Ruhestandsbeamten erneut über die disziplinarrechtlichen Konsequenzen eines Rückfalls in die Trunksucht belehrt. Dennoch hat der Ruhestandsbeamte das erneute Abgleiten in die Alkoholsucht in Kauf genommen und damit die Pflicht, sich mit aller Kraft um die Erhaltung seiner in den Entziehungskuren wieder gewonnenen Dienstfähigkeit zu bemühen, vorsätzlich verletzt.
Die Rückfälle des Ruhestandsbeamten in die nasse Phase der Alkoholsucht haben zudem erhebliche negative Auswirkungen auf den Dienstbetrieb gehabt, weil der Ruhestandsbeamte wegen seiner Alkoholsucht häufig nicht dienstfähig gewesen ist, ab 1995 kaum noch Dienst geleistet hat und 1998 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt werden musste.
Die Pflichtverletzungen des Ruhestandsbeamten stellen ein einheitliches Dienstvergehen im Sinne der §§ 2 Abs. 1 Nr. 1 NDO, 85 Abs. 1 Satz 1 NBG dar, das mit der Aberkennung des Ruhegehalts (§ 12 Abs. 2 NDO) zu ahnden ist.
Das Gewicht eines schuldhaften Rückfalls in die Alkoholsucht wird wesentlich durch die Schuldform und das Ausmaß der dienstlichen Auswirkungen des Rückfalls bestimmt. Bei einem vorsätzlich verursachten Rückfall und erheblichen dienstlichen Auswirkungen ist regelmäßig die höchste Disziplinarmaßnahme erforderlich. Das gilt auch im vorliegenden Fall. Der Ruhestandsbeamte hat durch die vorsätzlich verursachten Rückfälle in die nasse Phase der Alkoholsucht und die immer häufigeren Ausfallzeiten seine Dienstpflichten über einen langen Zeitraum massiv verletzt. Die Vorgesetzten haben ihn wiederholt auf die möglichen disziplinarischen Folgen des Rückfalls in die Alkoholabhängigkeit hingewiesen und ihn nachdrücklich aufgefordert, "trocken" zu bleiben. Gleichwohl ist er nach erfolgreichen Alkoholentziehungstherapien zweimal wieder rückfällig geworden. Damit hat er nicht nur die Geduld seines Dienstherrn und seiner Kollegen über jedes erträgliche Maß hinaus strapaziert, sondern auch das Vertrauen des Dienstherrn in seine Zuverlässigkeit und seine Bereitschaft, den Anforderungen seines Amtes gerecht zu werden, unwiederbringlich zerstört. Folglich hat er sich für seinen Dienstherrn untragbar gemacht. Das gilt umso mehr, als ihm neben den Rückfällen in die nasse Phase der Alkoholabhängigkeit (Anschuldigungspunkt 4) auch die unter den Anschuldigungspunkten 1, 2, 3, 5 und 6 aufgeführten zahlreichen Verfehlungen zur Last zu legen sind, durch die er dem Ansehen der Polizei in der Öffentlichkeit erheblichen Schaden zugefügt und das Vertrauen seines Dienstherrn nachhaltig erschüttert hat.
Daher wäre der Ruhestandsbeamte, wenn er sich noch im Dienst befände, aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. Folglich ist nach § 12 Abs. 2 NDO auf die Aberkennung des Ruhegehalts zu erkennen. In der Literatur wird zwar die Auffassung vertreten, dass ein Dienstvergehen, das die Entfernung aus dem Dienst rechtfertigt, nach dem Eintritt in den Ruhestand eine geminderte disziplinare Relevanz habe und damit eine mildere Beurteilung gerechtfertigt sein könne. Das Gesetz geht aber – wie sich auch aus § 117 Abs. 7 NDO ergibt – von der Gleichwertigkeit beider Disziplinarmaßnahmen aus und setzt deshalb für die Aberkennung des Ruhehalts lediglich voraus, dass bei einem aktiven Beamten die Entfernung aus dem Dienst gerechtfertigt wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.08.78 - 1 D 98.77 -; Urteil vom 05.09.79 - 1 D 32.78 -, BVerwGE 63, 262; NDH, Urt. v. 13.06.02 - 1 NDH L 1820/01 -).
Gegen die Aberkennung des Ruhegehalts im Disziplinarverfahren bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.01 - 2 BvR 2138/00 -, NVwZ 2002, 467).